Nähe, eine menschliche Kostbarkeit.
- Die Jagdgöttin
- 16. Juli 2020
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 14. Okt. 2020
Corona rückt das Gefühl bezüglich Nähe und unseren Umgang mit ihr in ein gänzlich neues Licht. Was früher selbstverständlich war, wird jetzt zur regulierten Kostbarkeit. Sie fehlt plötzlich bei so vielen Anlässen, bei so vielen alltäglichen Gesten. Corona macht uns bewusst wie sehr wir Menschen Nähe brauchen.

Ich frage mich daher, werden wir sie irgendwann großzügiger verschenken wollen als je zuvor, weil sie uns so sehr fehlte? Oder führt die Präsenz des Virus und die Angst vor Ansteckung dauerhaft zu einem distanzierteren emotionalen Miteinander. Oder erfinden wir Nähe neu? Ich gehe ins Gespräch mit einer bisher unterschätzten Dame.
Wer mit ihr früher geizte, ob aus Angst, aus Macht, aus fehlendem Bewusstsein über sie und ihren Wert oder aus anderen Gründen sparsam mit ihr umging, würde sie heute vielleicht gerne gegeben oder verschwendet haben. Jetzt, da sie nicht mehr selbstverständlich ist und ihre Wärme an so vielen Stellen fehlt.
Aber was oder wer bist du eigentlich liebe Nähe? Was genau fehlt uns an dir? Wo spüren und vermissen wir dich? Lass mich sehen, was Wikipedia über dich weiß! Ich bin erstaunt über den verkümmerten Beitrag, der zur Überarbeitung einlädt.
Erkenntnis N°1: Niemand empfand Dich bisher als so wichtig, einen ansprechenden Beitrag über dich zu verfassen? Der Inhalt wirkt eher wie ein kläglicher, schnell improvisierter Trostpreis oder wie ein genervt verfasster Beitrag eines Schülers, der lieber über das Skateboarden geschrieben hätte.
Wikipedia bittet um Überarbeitung.
In der Tat müssen wir Dank Corona unser Verhältnis zu Dir 'Nähe' und die Art und Weise wie wir dich erleben und zeigen völlig neu bestimmen. Mit wem können wir noch 'nah sein', für wen gehen wir ein Ansteckungsrisiko ein und ist diese Frage nicht bereits fahrlässig? Angehende Väter können ihren Frauen nicht so nah sein wie sie es sich wünschen, warten im Lock Down vor Krankenhäusern auf die Geburt ihres Kindes und werden erst im letzten Augenblick zugelassen. Geliebte Verwandte können nicht im Krankenhaus besucht werden. Was macht fehlende Nähe mit Patienten, die zur Genesung auf Berührungen angewiesen sind? Wie ergeht es Kindern, die in städtischen Kleinwohnungen ohne Balkon und Garten ohne nennbare soziale Außenkontakte für Wochen abgeschottet waren? Wie gestaltet man als junge Eltern nun das Kennenlernen des Kindes mit den Geschwistern und Großeltern und welches Risiko geht man dabei ein?
Gerade in Momenten, in welchen wir bisher selbstverständlich mehrmals täglich möglicher Weise Zuneigung zeigen konnten, fehlst du uns unglaublich 'Nähe'. Die flüchtige Geste, die Umarmung zur Begrüßung, die Umarmung aus Zuneigung und Freude. Immer dann wenn es um sich spüren geht, wenn Menschen ohne Worte einander nah sein wollen und die Energie des anderen erfasst werden muss, wie z.B. in der Musik, beim Tanz, fehlst du uns. Was macht das mit uns? Entfernen wir uns voneinander? Teilweise ja, mangels neuer Lösungen. aber welche sollte das sein? Andererseits werden wir kreativ, erfinden uns neu und zeigen, dass wir ohne dich nicht sein wollen und können.
Dabei verkümmern Menschen ohne Nähe, ohne Berührung, neigen zu einem schlechteren Immunsystem und können sogar erkranken. Es ist an der Zeit 'Nähe' ihren verdienten Stellenwert zu verschaffen.
Im Gespräch mit Familie, Freunden und Kollegen wurde mir bewusst wie vielfältig Nähe sein kann und wo wir sie überall vermissen. Wie oft sie uns täglich begegnet. Auch, wie wir Nähe bisher schätzten und was wir tun, um sie jetzt zu spüren.
Die tiefe Umarmung aus Freude über ein Wiedersehen
Geliebter uns nahestehender oder wertgeschätzter Menschen
Die Berührung oder Umarmung bei Anteilnahme und Mitgefühl
Freunde oder Familienmitglieder
Kinder
Spielen und Toben
Kulturelle Nähe
Theater, Oper, Ballettbesuche, Lesungen
Geteilte Geselligkeit, Freude
Hochzeiten, Jubiläen, Geburtstage, Restaurantbesuche, Bars, Tanzen, Feiern, Kochen, Musizieren, Singen...
Paare und Singles
Kennenlernen, Treffen
Die kleine Unbekannte Geste unter Fremden
Bewusste Nähe im Alltag, Menschen über die Strasse helfen, ein Kuscheltier oder einen Schnuller aufheben,
Familiäre Nähe
Großeltern, Wahlfamilien, alleinlebende Familienmitglieder
Kollegialer Schulterschluss
Die Umarmung, der Handschlag, die am Arm oder auf der Schulter eines Kollegen/In, der, die gerade Ausserordentliches geleistet hat, die Begrüßung nach einem Urlaub
Ich gehöre zur Fraktion, die die Ellbogen-Begrüßung für sich eingeführt hat, um einen Weg zu finden, meinem innersten Bedürfnis authentisch Freude zu zeigen Ausdruck zu verleihen. Oder ich spreche es einfach aus: "Ich würde dich so gerne umarmen, es geht aber leider nicht", wenn ich meiner Empathie oder Zuneigung ehrlich Luft machen möchte.
Ein Kollege und toller Musiker erklärte mir welche Effekte es mit sich bringt, wenn eine Band auf Distanz probt und das Gefühl der Einheit plötzlich in ein zeitverzögertes aufeinander eingehen übergehen muss, damit es wieder ein Ganzes ergibt und, dass das gewohnte Gefühl des im gemeinsamen Werk verschmelzen nicht mehr in dieser Art möglich ist aktuell.
Und dann schaut man einen Kinofilm und sieht Menschen Hände schütteln, sich umarmen, feiern, reisen und es fühlt sich an, als läge es weit zurück.
Wenn aktuell irgendjemand eine tiefe Liebeserklärung verdient hat, dann Du liebe Nähe. Du bist eine menschliche Kostbarkeit und nicht selbstverständlich. Wer sie jetzt erhält, bekommt das kostbarste Geschenk unserer Zeit.
Die Jagdgöttin
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