Es war ein kalter Wintertag zwischen Weihnachten und Silvester. Einer an dem man gerne nach einem langen Spaziergang nach Hause kommen will, friesischen Tee aus blauweiß gestreiften 100 Gramm Tütchen in gläsernen Kannen trinken und britische Butterkekse von Fortnum & Mason genießen möchte. Die aus der cremefarbenen Keramikdose. Es war alles getan für dieses Jahr, eins, das zu Ende ging wie viele ihrer Vorgänger, aufgeräumt und doch unerledigt.
Er war unruhig an ruhigen Tagen. Lag es daran, dass er noch satt war von der friedlichen in Orangensirup gewälzten, weihnachtlichen Hähnchenbrust mit von Nüssen und Granatapfelkernen begleiteten Blumenkohl Röschen aus einer der ottolenghischen Entführungen zur kulinarischen Wiege der Menschheit? War es der von ihm abfallende Alltag an freien Tagen, der nicht einfach geräuschlos heruntersinken konnte oder war er nur voll und sein Verdauungstrakt hatte Hochbetrieb? Voller Speisen also. Nein, voller Gedanken über das Jahr.
"Beruflich lief es astrein", begann er, der Geschäftsführer eines Logistikkonzerns, das Jahr vorschnell mit einem schelmischen Schmunzeln zu bewerten. Er begutachtete es wie ein Kaufobjekt, das einem auf den ersten Blick sehr gefiel. Das er aber nach näherer Betrachtung, würde es nicht überzeugen, doch noch in das Regal zurücklegen könnte, dem er es eben entnommen hatte. Einem Schachspieler gleich, der alle weiteren Züge seines Spieles strategisch voraussieht, schoß er mit seiner Reflexion durch die Facetten und Details des Erlebten und resümierte, dass es wie so viele Jahre zuvor, nur die menschlichen Begegnungen waren, die ihn wirklich interessierten und sich wie Meilensteine in seine Erinnerungen setzten. Mit allem anderen, den beruflichen Erfolgen, mit den dahinter verborgenen abgeschlossenen Zielen, Meilensteinen, den endlos erledigten Aufgaben, verhielt es sich, als degradierten sie zur reinen Kulisse des eigentlichen Schauspiels 'Leben'.
Im Grunde verhielten sich die Erfahrungen eines Jahres wie Schulnoten. Die Einsen, die Zweien und dazu zählte er die schönen menschlichen Begegnungen und Erfolge, reihten sich entspannt aneinander, verursachten unterjährig eine selige Freude und gruben sich dann zügig in seine Annalen ein, als wären sie selbstverständlich. Und obwohl ohne diese guten Noten kein wirklich seliges Ende eines Jahres möglich war,
verblasste ihr Eindruck unterjährig wie Eintagsfliegen, die nach der Paarung starben. Nur, dass sich seine top Noten und Erlebnisse mit nichts paarten.
Damals als er noch Schüler war, nicht einmal mit der nächsten Vier in Latein, nur mit einer kurzen Randbemerkung seines Vaters zum Schlafengehen über die Eins in Mathe: "Hast du gut gemacht, wir haben es nicht anders erwartet, schlaf schön." Kuss auf die Stirn, Licht aus, Tür zu. Das war's! Dann kam die Vier.
Sie reihte sich in nichts ein, sonder schien alles auseinander zu stieben. Das zur Besserung und mehr Einsatz mahnende Einreden der Eltern, das Abfragen der Lateinvokabeln am Abend, alles war durcheinander und hing ihm nach wie der Gestank von Schwellbrand, der Räume noch Wochen nach dem Brand mit seinem beissenden Geruch erfüllte. Sie hatte die volle Aufmerksamkeit und beschwerte sein Gemüt, paarte sich mit allem. Diese Hurenvier. Selbst dem unpassendsten Moment, zum Beispiel mit der freitäglichen Freude beim Aufnehmen der Top Ten.
(Anmerkung der Redaktion: nein, wir erklären jetzt nicht, dass es sich um einen Protagonisten handelt, der in den 70iger Jahren geboren wurde und der auf Kassettenrekordern mit 13 Jahren noch Musik von Billy Idol auf Kassetten von TDK aus dem Radio aufnahm. Wir bemühen keine Generation, die nach einem Volkswagen benannt wurde, weil jeder der cool sein wollte, einen Golf oder einen Fiat Uno fuhr und ansonsten Rennrad und Roller und an Ostern Ski. Dort trug sie französische Sonnenbrillen von Le Coq Sportif, bekam einen Herpes, der nach den Ferien in der Schule demonstrativ mit Zinksalbe zur Schau getragen wurde, um zu zeigen, wir können es uns leisten. Und ansonsten trug er Lacoste, was sonst - Diesel kam später)
Während er also genußvoll Billy Idol aufnahm, funkte ihm die letzte Vier ins Gehirn, paarte sich mit dem schlechten Gewissen und schon sanken die Schultern, Billy Idol war verdorben. Hatte er jemals Fünfen? Er konnte sich nicht genau daran erinnern. Lächerlich dachte er, ich hatte eine Fünf in Englisch. Er hatte es verdrängt.
Die verdammte Fünf dieses Jahr? War Corona, keine Frage! Die gesunkenen Umsatzerwartungen, die daraus resultierenden extrem unpopulären Entscheidungen nach all den vollen, satten Jahren. Es war unklar wie es weiterging.
Er dachte plötzlich an eine Nachricht eines Menschen, der ihm für ein privates Gespräch dankte, in dem er ihm mit Rat hinsichtlich eines Investments Rat schlug. Er dachte an den Menschen, der in Tränen vor ihm ausbrach, weil die Firma ihm gekündigt hatte, dann an die andere, die weinte, weil sie befördert wurde. Er wunderte sich über die Relativität der Dinge und freute sich darüber, dass es trotz der Pandemie in Summe sehr gut lief und das Board gemeinsam die richtigen Entscheidungen traf, um den Umsatz und die Gewinne zu stabilisieren.
Gut, dass Kennzahlen wie Profitabilität und EBIT nicht heulen können.
Er nahm einen Keks aus der Dose und einen langen Schluck Tee, der Keks zerbarst auf seiner Zunge und legte sich mit dem Tee gekonnt auf seine Geschmacksnerven, zitronig, süß, salzig, bitter, pfeffrig. Das war richtig gut und würde es für immer bleiben. Die Gewissheit vom Geschmack und der rauen, dann seidigen Beschaffenheit von Cookies, die sich mit schwarzem Tee paarten, beruhigte ihn.
Dann plötzlich brach ein drängender futuristisch anmutender Suchtrupp durch die Verästelungen seines Gehirns. Fordernd, sabbernd nach den sogenannten weiteren privaten Höhepunkten des fast vergangenen Jahres trieben den Trupp nach vorne. "Hier nichts", rief der eine, "nächste Abzweigung links!", der andere. "Auch hier nichts, nur das Übliche normale Einerlei", stieß ein Dritter plötzlich laut hervor, "ansonsten keinerlei sonderliche Ausschläge zu finden." Hatte er vielleicht schlichtweg ein gutes Jahr, mit vieler dieser guten Noten und nur wenig schlechten erlebt. Viel kurze schöne Momente, die aufflackerten und sich dann zufrieden in seinem Erinnerungsspeicher aneinanderreihten?
Was war es "anyway", dachte er, der seit seinem 3 Jahresaufenthalt in den USA in Englisch träumte - so viel zur Fünf. Es gefiel ihm Englische Wörter seither alternativ zu deutschen einzusetzen, wenn sie schmeichelnder über die Zunge glitten. 'Anyway' sprach er in den Wintermonat Dezember 2020 und stellte 'überhaupt' ins persönliche Sprachgefängnis, während er immer noch durch sein Erlebtes wühlte.
Job und Privates verschwammen. Erlebnisse, Momente, Erinnerungen, auch die sogenannten Höhepunkte diffundierten zu seinem Leben 2020, das sich gut anfühlte in seiner durch Corona bedingten beruflich hektischeren, privat ruhigeren Gangart. Das Dahinplätschern an den Wochenenden, er hatte es genossen. Sich weg sperren müssen, nichts tun zu können war ...
...wie eine Panchakarmakur - erst kotzen, dann vor Energie strotzen.
"Stop!" , schrie der Anführer des Suchtrupps, legte seinen Finger auf den Mund und mahnte so zur absoluten Stille, als könne sich das soeben entdeckte "Highlight des Jahres" erschrecken. Die Mannschaft ging in Deckung. Da stand sie: die Erinnerung an eine Reise in ein entlegenes Steinhaus mit den Menschen, die er liebte, fernab großer Supermärkte, irgendwo in Slowenien. Er fühlte die Schönheit der Abgeschiedenheit. Roch den Duft, der auf dem Grill brutzelnden Steaks am Abend, sah sich einen Schluck des exzellenten Weines nehmen und seiner Frau erfüllt zuprosten. Er sah sie im Sommerregen mit seiner Tochter im Garten tanzen, gemeinsam Skorpione entdecken, kurz fürchten, dann abenteuerlich entfernen. Er fühlte den Sprung ins kühlende Meer an berstend schönen Nachmittagen, hörte das in Wasserfontänen ertrunkene Lachen der Badenden während der Wasserschlacht. Er spürte sich zurück, war voller zeitloser Zeit, folgte dem Blick in die Ferne, traf den Horizont und verschmolz mit dem Sommer, der Sonne und dem Raum.
Er nahm noch einen Keks, dann einen Schluck Tee, als seine Tochter ihn fragte: "Weißt Du noch, als wir im Sommer im Regen im Garten tanzten?"
Die Jagdgöttin
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